Die Börse im Sinkflug – Glück oder Unglück?

von Édouard Dommen, Mitglied des Vorstands

Der Schneeball ist geschmolzen

In den letzten Jahren funktionierte die Börse nach dem Schneeballprinzip. Aktien wurden gekauft in Erwartung steigender Kurse, die Kurse stiegen tatsächlich, weil zusätzliches Kapital in die Börse floss, angelockt durch die Aussicht auf steigende Kurse … Die neuen KäuferInnen ermöglichten die Gewinne der vorher Eingestiegenen und so fort. Eigentlich ist das Schneeballsystem in der Schweiz verboten. Jedenfalls kann es sich nicht unbegrenzt fortsetzen, sein Schwung geht verloren, und es bricht zusammen, sobald die Teilnehmenden seine Funktionsweise durchschauen. Die jetzige Rückkehr der Vernunft ist sehr zu begrüssen, auch wenn die gerupften KleinanlegerInnen zu bedauern sind.

Hohe Eigenkapitalrendite auf Kosten der andern Anspruchsgruppen

In den Jahren des Börsenwahns verlangten Spekulanten wie Ebner, aber auch seriöse Chefs von grossen Unternehmen eine Eigenkapitalrendite von 20 – 25%. Solche Zinsen sind klar Wucherzinsen. In der Schweiz wurde 1991 die Grenze für Zinsen bei 18% festgelegt. Die Eigenkapitalrendite eines grossen schweizerischen Unternehmens betrug 1999 22,4% und 2000 21,5%. Es gibt nicht unbeschränkt Möglichkeiten, solche Resultate zu erreichen. Sie sind möglich,

  • wenn jemand in der Lage ist, die Schwäche des Vertragspartners auszunützen, wie dies im Artikel 157 des Strafrechts definiert ist: Wer die Zwangslage, die Abhängigkeit, die Unerfahrenheit oder die Schwäche im Urteilsvermögen einer Person dadurch ausbeutet, dass er sich oder einem anderen für eine Leistung Vermögensvorteile gewähren oder versprechen lässt, die zur Leistung wirtschaftlich in einem offenbaren Missverhältnis stehen…

  • wenn es den AktionärInnen gelingt, einen übermässig grossen Teil des Unternehmensgewinnes - der auf den Anstrengungen aller Anspruchsgruppen beruht - für sich zu beanspruchen. In den Industrieländern ist in den 90er Jahren der Anteil des Kapitals am Bruttoinlandprodukt zu Lasten des Anteils der Arbeit gestiegen. Bei der zweiten Säule herrschen ähnliche Zustände. Die AktionärInnen und das Kader der grossen Versicherungsgesellschaften haben sich aus dem Topf der Beitragszahlenden bedient. Jetzt profitieren sie von der Börsenbaisse, um erstaunt festzustellen, dass der Topf nicht mehr voll ist.

  • wenn ein Teil des Kapitals, das eigentlich nötig wäre, um die Firmenaktivitäten längerfristig aufrecht zu erhalten, an die AktionärInnen verteilt wird, wie wenn es sich um einen Gewinn handelte. Eine Form dieses Vorgehens ist das Ausschlachten eines Unternehmens in der Art von Werner K. Rey oder Bernard Tapie. Ganz offensichtlich ist dies nicht nachhaltig, da die Früchte der Arbeit von morgen schon heute konsumiert werden. Auf ähnliche Weise wurden einige Privatisierungen von Staatsbetrieben ad absurdum geführt. Gut funktionierende Betriebe wurden auseinandergebrochen, Personal wurde entlassen und der Unterhalt der Infrastruktur sträflich vernachlässigt, nur um während einiger Jahre atemberaubende Gewinne zu schreiben. Elektrizitätsunternehmen in Neuseeland und Kalifornien, British Rail oder gewisse Telekommunikationsunternehmen sind die herausragenden Negativbeispiele.

Die zu erwartende Rendite bestimmt den Wert eines Titels, ausser dieser Wert würde durch Spekulation verfälscht. Angenommen, der Markt betrachtet eine Rendite von 5% als normal. Für das Anrecht auf einen Ertrag von 5 Franken muss man also 100 Franken investieren. Falls nun der zu erwartende Ertrag auf 10 Franken steigt, wird der Wert des Titels auf 200 Franken steigen, damit der Ertrag wieder 5% beträgt. Nicht das Niveau der Rendite, sondern die Erhöhung der Eigenkapitalrendite hat also dazu beigetragen, die Börsenkurse in die Höhe zu treiben. Der Kurs eines Titels kann natürlich nicht unbeschränkt steigen. Entweder verweigern die andern Anspruchsgruppen ein weiteres Sinken ihres Anteils am Gewinn oder der Kapitalabfluss verringert die Produktionskapazität der Unternehmung. Die Börsenbaisse entspricht unter anderem dem Zeitpunkt, an dem sich die an der Börse investierten Personen und Firmen dieser Tatsachen bewusst wurden.

Erfreuliche Schlussfolgerung: Es besteht die Hoffnung, dass mit der jetzigen Börsenbaisse eine Rückkehr erfolgt ist, zu Kursen, die der realen Produktivität des Kapitals besser entsprechen. In einem Brief an die Private-Banking-Kunden schrieb die UBS im September 2002, sie sei der Ansicht, dass in Bezug auf die mittel- und langfristig zu erwartenden Unternehmensgewinne die Aktienmärkte sich auf einem vernünftigen Niveau befänden.

Die Renten begünstigen die Börsenüberhitzung

In der Mehrheit der reichen Länder werden die Renten nicht nach dem Umlage-, sondern nach dem Kapitalbildungsverfahren finanziert. Jeden Tag fliessen Beitragszahlungen an die Versicherungen, die irgendwo angelegt werden müssen. Die Tatsache, dass diese Gelder schneller zunehmen als die Menge der verfügbaren Titel, führt unausweichlich zu einer zusätzlichen Nachfrage, welche die Kurse nach oben treibt gemäss den elementarsten Prinzipien des Marktes. Gewisse Stimmen behaupten sogar, dass mit der Privatisierungswelle der 90-er Jahre unter anderem beabsichtigt war, die Menge der verfügbaren Titel zu erhöhen, um die Kurssteigerung zu dämpfen.

Mit oder ohne Börsenbaisse, die Beitragszahlungen fliessen immer noch. Früher oder später sind die Pensionskassen und Versicherer gezwungen, an die Börse zurückzukehren. Die Kurse werden dadurch wieder steigen, die Kassen werden ihre Rückkehr bestätigt sehen und verstärkt investieren … eine weitere Runde wird beginnen.

Es ist zu hoffen, dass die Erfahrung mit dem Platzen der Börsenblase den heutigen und zukünftigen RentenbezügerInnen klar gemacht hat, dass Renten nach dem Umlageverfahren, wie wir sie von der AHV kennen und wie sie die Franzosen immer noch haben, nicht zwingend weniger sicher sind als Renten, die von den Schwankungen der Börse abhängig sind.

Die Rückkehr der Kostenwahrheit

Die Prämien der Autohaftpflichtversicherungen steigen im 2003. Die Versicherer erklären, dass diese in den letzten Jahren durch Börsengewinne subventioniert wurden. Die AutomobilistInnen bezahlten also nicht den wahren Preis für die Risiken, die sie verursachten. Autofahren war zu billig, es gab keinen Anreiz, weniger zu fahren. Dank der Börsenbaisse ist die Kostenwahrheit wieder hergestellt. Einer der wichtigsten Grundlagen der Nachhaltigkeit, dem Verursacherprinzip, wird so Genüge getan.