Zukunft der Generalversammlung

Die Digitalisierung macht auch vor der Generalversammlung nicht Halt. Was heisst das konkret? Eine Tour d’Horizon.

Stellen Sie sich vor, Sie besuchen im Jahr 2033 eine Generalversammlung. Sie begeben sich dafür nicht auf eine Zugreise, um danach zwei Stunden in einer Messehalle zu sitzen, und Sie erhalten am Schluss keinen Weisswein und keine Apéro-Häppchen.

Stattdessen bleiben Sie zuhause und setzen sich eine Vorrichtung auf den Kopf, die Ihnen die Generalversammlung vor die Augen projiziert. In dieser virtuellen Realität können Sie einen Saal sehen, sich darin bewegen und mit anderen unterhalten oder ans Podium gehen und Fragen stellen. Anwesend sind hunderte andere Aktionärinnen und Aktionäre sowie Verwaltungsrat und CEO, ganz wie immer. Nur werden die Gestalten der Anwesenden vom Computer generiert – vielleicht sehen sie aus wie im wirklichen Leben, vielleicht besitzen sie eine eigens kreierte Fantasiegestalt. Willkommen an der Generalversammlung im Metaversum, einer immersiven Form des Internets!

Reliance Industries, Indiens grösstes privates Unternehmen, war letztes Jahr unter den ersten, die zur Versammlung im Metaversum luden. Manche monierten zwar, dass das Unternehmen die Möglichkeiten des Metaversums nicht voll ausschöpfte. Die technischen und praktischen Hürden auf beiden Seiten – Unternehmen und Aktionariat – sind dafür im Moment noch zu hoch. Aber trotzdem scheint klar: Die Digitalisierung wird auch die Generalversammlung verändern.

Während der Pandemie: ein Vorgeschmack nicht physischer Versammlungen

Die bundesrätliche Verordnung 3 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (Covid-19) bestimmte, dass Generalversammlungen weiterhin stattfinden konnten, aber nur unter Ausschluss des Publikums. Aktionärinnen und Aktionäre mussten ihre Stimmrechte entweder elektronisch ausüben oder an die unabhängige Stimmrechtsvertretung delegieren. Die physische Präsenz beschränkte sich auf den Verwaltungsrat, die unabhängige Stimmrechtsvertretung und ein paar weitere Personen.

Eine Delegation an Dritte, etwa an Actares, war meist nicht gegeben. Im Frühjahr 2022 hob der Bundesrat das Versammlungsverbot für Grossveranstaltungen zum grössten Teil auf, Generalversammlungen durften aber bis Ende 2022 weiter nach den Vorgaben der Verordnung durchgeführt werden.

Die Unternehmen gingen mit dem Versammlungsverbot während der Pandemie unterschiedlich um. Die einen übertrugen die Generalversammlung live im Internet und beantworteten dabei auch Fragen, die von Aktionärinnen und Aktionären im Voraus eingeschickt wurden – andere tagten hinter verschlossenen Türen und verwiesen aufs Protokoll.

Die physische Generalversammlung ist nicht nur Theater: Was ohne sie fehlen würde

Am 1. Januar 2023 trat das neue Aktienrecht in Kraft. Artikel 701 des Obligationenrechts sieht vor, dass eine Versammlung im In- oder im Ausland, an einem oder an mehreren Orten gleichzeitig stattfinden kann und dass der Einsatz elektronischer Mittel erlaubt ist. Letzteres ermöglicht neben physischen Versammlungen auch hybride physisch-virtuelle und rein virtuelle Versammlungen. Bei virtuellen Versammlungen trifft sich nur eine Restversammlung von Verwaltungsrat und einigen anderen Personen physisch, wie zu Zeiten der Pandemie.

Für diese neuen Formate gelten bestimmte Anforderungen: Die Möglichkeit von Versammlungen im Ausland oder im virtuellen Raum muss in den Statuten verankert werden; hybride Versammlungen oder solche an mehreren Orten sind ohne Statutenanpassung möglich. Für jedes Format ausser der physischen Versammlung an einem Ort müssen die Teilnehmenden elektronisch durch Bild und Ton verbunden sein. Sie müssen in Echtzeit die Veranstaltung verfolgen, sich äussern und abstimmen können. Die Unternehmen müssen die Identität der Teilnehmenden und fälschungssichere Abstimmungsergebnisse sicherstellen. Treten technische Probleme auf, muss die Versammlung unterbrochen werden – nur die Abstimmungen vor dem Auftreten der Probleme sind in diesem Fall gültig.

Der grössere Teil der Unternehmen im Swiss Market Index verlor keine Zeit, dem Aktionariat noch dieses Jahr die nötige Statutenänderung für virtuelle Versammlungen vorzulegen. Actares fragte verschiedene Unternehmen, wozu sie diese Vorkehrung treffen wollen. Die Antwort lautete unisono: «Nur für aussergewöhnliche Umstände wie Pandemien.» Nur ein SMI-Unternehmen, Novartis, anerkennt mögliche Bedenken gegenüber virtuellen Generalversammlungen. Das Unternehmen schlug an der Generalversammlung vor, die Ermächtigung zur Durchführung virtueller Generalversammlungen auf fünf Jahre zu be- schränken und zusätzlich in zwei Jahren nochmals darüber abzustimmen.

Keine Übergangsfristen gibt es hingegen bei Swatch Group: Das Unternehmen schrieb bereits 2021 in die Statuten, dass Generalversammlungen, «sofern gesetzlich zulässig, mit elektronischen Mitteln ohne Tagungsort durchgeführt werden». In diesem Jahr hat Swatch Group als eines der ersten börsenkotierten Unternehmen in der Schweiz eine virtuelle Generalversammlung abgehalten.

Die physische Generalversammlung ist nicht nur Theater: Was ohne sie fehlen würde

Actares als Vertretung kleinerer, individueller Aktionärinnen und Aktionäre hat in dieser Saison die Ermöglichung virtueller Generalversammlungen konsequent abgelehnt, weil deren physische Durchführung gerade für diesen Teil des Aktionariats wichtig ist – nicht nur aus persönlichen Gründen, etwa um als ehemalige Mitarbeitende Kontakt zum Unternehmen zu behalten und alte Bekannte zu treffen. Sondern auch aus Governance-Gründen: Die grössten, meist institutionellen Aktionäre haben direkten Zugang zum Unternehmen und sind denn auch nur in Ausnahmefällen an der Generalversammlung präsent. Für kleinere, individuelle Aktionärinnen und Aktionäre hingegen ist die Generalversammlung die einzige Gelegenheit für einen direkten Austausch mit der Unternehmensspitze.

In den Medien stossen Generalversammlungen ohne kontroverse Traktanden auf wenig Interesse, und wenn es hoch zu- und hergeht, wird oft das Skurrile hervorgehoben. Das erweckt zuweilen den Eindruck, dass Generalversammlungen vor allem Theater sind. Aber auch der theatrale Aspekt hat seinen Nutzen: Er schafft Medienaufmerksamkeit und ist so ein Mittel für kleinere, individuelle Aktionärinnen und Aktionäre, Druck auszuüben und im Bewusstsein der Unternehmensspitze präsent zu bleiben.

Auch die Tatsache, dass die Entscheidungen bei grossen Unternehmen nicht während der Versammlung getroffen werden, spricht nicht gegen die physische Generalversammlung. Die dort anwesenden Stimmen mögen oft nur eine kleine Minderheit ausmachen – aber für den Dialog ist es nicht dasselbe, ob Verwaltungsrat oder CEO vor eine versammelte Menge hinstehen müssen, um sich zu erklären oder zu entschuldigen (wie dieses Jahr bei Credit Suisse), oder ob sie sich hinter einem Bildschirm verstecken können.

Wenn der Verwaltungsrat das Format der Generalversammlung seinen Bedürfnissen anpassen kann – etwa um das Narrativ in den Medien zu steuern –, bedeutet das eine Machtverschiebung vom Kleinaktionariat zum Verwaltungsrat. Aus der Sicht von individuellen Aktionärinnen und Aktionären hat die physische (oder zumindest hybride) Generalversammlung deshalb ihre Berechtigung nicht verloren – auch nicht im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung.